Routine, zunächst. Ich öffnete meine Mailbox und las die Nachricht einer Kollegin, die am Empfang des Museums arbeitet: „Kannst du bitte einen unserer Besucher anrufen, bei Gelegenheit? Der Herr hat im Art déco-Buch etwas über den Raub der Europa gelesen und hat eine solche Figur zu Hause stehen.“

Tatsächlich Routine?
Sehr schnell wurde mir klar, wie interessant der Hinweis ist und einen solchen erhält das Museum eben nicht alle Tage. Es könnte sich womöglich um die Keramikfigur „L’Enlèvement d’Europe“ handeln, eine Plastik des Luxemburger Künstlers Léon Nosbusch (1897-1979), deren Existenz bislang nur aus schriftlichen Quellen bekannt war. Aufgeführt wird sie in dem Ausstellungskatalog des Cercle Artistique de Luxembourg (CAL) von 1930 unter der Nummer 140 als Pendant zu der Keramikfigur „Don Quichotte et Sancho Pança“ mit der laufenden Nummer 139. Letztere ist seit 2017 im Bestand des Nationalmuseums. Sollte sich das Gegenstück tatsächlich in einer Luxemburger Privatsammlung befinden?
Léon Nosbusch besuchte bis 1918 die Luxemburger Handwierkerschoul, um sich dann an der Brüsseler Académie Royale des Beaux-Arts als Bildhauer ausbilden zu lassen. Obwohl Nosbusch anfangs fraglos auch aufgrund einer schlechten Auftragslage für freischaffende Künstler begann, sich in den 1920er Jahren für Keramik zu interessieren, prägten ihn der künstlerische Wettbewerb und die Zusammenarbeit in diesem Kunsthandwerk mit renommierten Bildhauerkollegen aus Frankreich und Belgien maßgeblich. In diesem kreativen Umfeld schuf der Luxemburger Bildhauer Modelle im expressiven Art déco-Stil, die von dem Verlagshaus Les Éditions Nerva ediert wurden und zu den ausdrucksstärksten Arbeiten seines OEuvres zählen. Dass diese auch in Luxemburg rezipiert und bewundert wurden, belegen zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen im Großherzogtum und die Vergabe des Prix du Grand-Duc Adolphe an Nosbusch im Jahr 1929.

Eine freundliche Einladung
Neugierig geworden, griff ich zum Telefon. Die Vermutung bestätigte sich, und es wurde großzügigerweise ein Treffen vereinbart, schon in der drauffolgenden Woche. Ich konnte die Figurengruppe „Der Raub der Europa“, deren Material und Technik im Katalog mit „céramique craquelée“ angegeben wurde, genau betrachten. Sie ist in der Ausführung identisch mit der erwähnten Plastik „Don Quichotte und Sancho Panza“ des Museums, sie wurde laut Aufschrift ebenfalls in der Auflagenhöhe von fünfzehn Exemplaren produziert und sie weist die gleiche Art der Signatur auf. Somit kann bestätigt werden, dass es sich um eine Steingutfigur handelt, die Leon Nosbusch im Auftrag des Verlagshauses Nerva entworfen hatte und die in der belgischen Steingutmanufaktur La Céramique Montoise hergestellt wurde. Insbesondere die Signatur samt Seriennummer, die erst nach Fertigstellung der Werke von den Künstlern als eine Art Qualitätsgarantie aufgetragen wurde, erlaubt diese Zuschreibung.
Stilistisch passt die Figur der Europa auf dem geflügelten Stier zu Nosbuschs Werken dieser Zeit. Die Darstellung des weiblichen Akts auf dem davoneilenden Stier wirkt fast naturalistisch, während der Sockel sich aus geometrischen Formen zusammensetzt, die Meereswellen allenfalls andeuten. Deutlich geometrischer als die Körper wirken zudem die Flügel des Stiers und Europas Haare. Die griechische Mythologie erzählt die Geschichte des Götterkönigs Zeus, der sich in Europa verliebt und sich in einen Stier verwandelt, um sie auf seinem Rücken übers Meer nach Kreta zu bringen, wo er ihr schließlich seine wahre Identität offenbart. Nosbusch interpretiert die Erzählung nicht als Raub, vielmehr scheint sich Europa freiwillig, verliebt an das Tier geschmiegt, auf die Reise zu begeben. Die Flügel, die in anderen Darstellungen des Themas eher selten zu finden sind, und die nach vorn und nach oben strebende Bewegung von Europa und Zeus verleihen der Figur eine beeindruckende Dynamik, die charakteristisch für den Art déco-Stil ist.

Mehr als erwartet
Die Entdeckung der Figurengruppe sollte nicht die einzige Überraschung bleiben, vielmehr wartete bei meinen Gastgebern eine weitere auf mich. Denn tatsächlich konnte ich noch eine andere Wissenslücke schließen. Bei meinem Beitrag über Léon Nosbusch in der Publikation „Art déco au Luxembourg“, die 2021 vom Nationalmuseum veröffentlicht wurde und durch den die Eigentümer der Plastik auf mich aufmerksam geworden waren, handelt es sich um den Versuch einer Bestandsaufnahme seiner Art déco-Keramiken. Anhand einiger Zeitungsartikel, die zu seinen Lebzeiten erschienen waren, anhand von bereits 2013 von Tony Damen und Norbert Poulain ausgewerteten Werbekarten von Nerva, anhand der bereits erwähnten Listen in Ausstellungskatalogen des CAL sowie auf Basis des Museumsbestandes und von Werken in verschiedenen Privatsammlungen hatte ich versucht, diese Plastiken des Luxemburger Künstlers zusammenzustellen. Jedoch konnten bei Weitem nicht alle seine aus Katalogen bekannten Werke identifiziert werden. So war Nosbusch bereits 1927 mit fünf Arbeiten, darunter zwei Buchstützenpaare aus Steingut in der Ausstellung des Luxemburger Kunstvereins vertreten.
Während die bisherige Forschung die dort aufgelisteten „Bloc-livres (chat)“ mit den 1928 von Nerva angebotenen Katzen, von denen zumindest eine historische Fotografie erhalten ist, in Verbindung bringen konnte, fehlte von den anderen Buchstützen jede Spur. Als meine Gastgeber mir noch zwei andere, ein Paar bildende Keramiken zeigten, erkannte ich sofort, dass ich ein Exemplar der „Bloc-livres (singe lettré)“ vor meinen Augen hatte. In fast menschlicher Pose sitzt der dargestellte Affe mit einem Buch auf den Knien, den Rücken angelehnt, den Kopf geneigt und liest. Die Art der Krakeleeglasur und die auf einer der Buchstützen noch gut lesbare Signatur des Künstlers erlauben eine eindeutige Zuschreibung an die Manufaktur La Céramique Montoise und den Nerva-Verlag. Damit ist nun erstmals nicht nur eine Schwarzweißaufnahme sondern ein reales Werk aus der Zusammenarbeit von Nosbusch und Nerva bekannt, das bereits vor 1928 entstanden ist.

Ewige Jugend
Aber was liest der Affe eigentlich? In Goßbuchstaben kann man auf dem Buch „VORONOFF“ entziffern. Serge Voronoff (1866-1951) war ein französischer Chirurg russischer Herkunft, der sich auf dem Gebiet der Xenotransplantation einen Namen gemacht hatte. Er war Schüler und Freund des Nobelpreisträgers Alexis Carrel (1873-1944), galt als Wegbereiter der modernen Medizin und erhielt den renommierten Posten des Vizedirektors der physiologischen Abteilung des Collège de France. Berühmt wurde er schließlich mit Versuchen, mit dem Ziel einer Verjüngung in das Skrotum eines Patienten in Scheiben geschnittene Hoden eines Schimpansen zu implantieren. 1923 wurde seine Arbeit zur Verjüngung alter Männer auf dem International Congress of Surgeons in London gewürdigt. Er veröffentlichte zahlreiche, in viele Sprachen übersetzte Schriften zu diesem Thema, so die Titel „Verhütung des Alterns durch künstliche Verjüngung: Transplantation der Geschlechtsdrüsen vom Affen auf den Menschen“ (im Jahr 1926) oder „Die Eroberung des Lebens. Das Problem der Verjüngung“ (1928). Bis in die 1930er Jahre nahm Voronoff selbst Hunderte von Eingriffen vor, weltweit gingen die Transplantationen wohl in die Tausende. Kurzzeitig zu beobachtende Erfolge, denn anders ist der enorme Zulauf trotz erheblicher Kosten für eine solche Operation kaum zu erklären, werden heute einem Placebo-Effekt zugeschrieben. Serge Voronoff musste schließlich erleben, wie er von einem weltbekannten Chirurg, einer angesehenen Persönlichkeit und einem bewundertem Hoffnungsträger für Reiche mit dem Wunsch nach längerem Leben sowohl in der Fachwelt als auch in der Öffentlichkeit zum Scharlatan degradiert wurde.
Während heutzutage der Name des Mediziners weitgehend in Vergessenheit geraten ist, kann man davon ausgehen, dass zur Entstehungszeit der Buchstützen um 1927 die Inschrift „VORONOFF“ unmittelbar mit den Transplantationen von Affenhoden und dem damit verbundenen Verjüngungsversprechen assoziiert wurde. Es entbehrt also nicht einer gewissen Komik, wenn sich Nosbuschs Keramikaffe ausgerechnet dieser Lektüre widmet. Wird er sich gerade der Gefahr für sich und seine Artgenossen bewusst? Welche Haltung Nosbusch tatsächlich zu dem Thema einnahm, bleibt uns verborgen. Sicher ist jedoch, dass er auf einen Verkaufserfolg seiner Buchstützen hoffte. Diese Hoffnung teilten die Verantwortlichen des Verlags offensichtlich, da sie die Buchstützen in ihr Angebot aufnahmen.
Mit Dank
Die kunsthistorische Forschung zu Léon Nosbusch, insbesondere die Bestandsaufnahme seiner künstlerisch interessantesten Werke – der Art déco-Plastiken aus seiner Brüsseler Zeit – konnte dank der aufmerksamen Lektüre unserer Publikation und der Kontaktaufnahme des Sammlerehepaars nun um zwei Keramikfiguren ergänzt werden, von deren Existenz man zwar wusste, deren Aussehen jedoch in Vergessenheit geraten war. Die freundliche Erlaubnis, die Werke fotografieren und publizieren zu dürfen, ermöglicht es uns zudem, die Erkenntnisse zu teilen. Ein alles andere als alltäglicher Moment in meiner Arbeitsroutine, der mich zu aufrichtigem Dank verpflichtet.
Text: Ulrike Degen | Fotos: Tom Lucas
Quelle: MuseoMag N° II - 2025